Deformation im Herdentrieb
Die Dresdner Künstler Petrovsky, Voigt und Dorschner im Kunsthof

Eine gelbe Karte mit dem Passwort "de.formation" liefert den Einstieg in ein Denkspiel zwischen Gestern und Heute in der Galerie Hintersdorf. Es geht um Mensch und Tier, Masse und Individuum, High-Tech und Geistesnotstand. Die Botschaft ist ungewohnt schroff und zugleich differenziert: Die Formation Mensch, unsere vielgerühmte Zivilisation ist längst aus dem Gleis geraten. Doch aus Unheil zu lernen, das funktioniert nur bedingt. Schuld daran ist die fortgesetzte Verführung der Herde.

So übermitteln es uns jedenfalls die Aktionisten des Projekts "de.formation''. Die Dresdner Maler und Grafiker Wolfgang Petrovsky und Frank Voigt sind dafür bekannt, dass ihr Werk beunruhigende Entdeckungen statt Sicherheiten liefert. Beide holten sich Hartmut Dorschner, Komponist und Saxophonist zur Seite. Akustische Geräusche und Dissonanzen signalisieren Gefahr, und mit besagter gelber Karte sind wir gleichermaßen gewarnt wie gebeten, einzutreten in eine "Wüste, die Geschichte heißt". So sagt es Volker Braun, der bald hier Iesen wird.

An der Wand ein deutsches "Schaf in Rückenlage". Sein Körper ist gefüllt mit Seiten aus einem Haushaltsbuch des Dritten Reiches. Fein säuberlich verzeichnet sind Monatssalden eines Unbekannten anno 1937. Kaum merkliche Veränderungen, bis plötzlich ein neuer Posten auftaucht: der NSDAP-Beitrag. Die unscheinbare Schnittstelle des Umbruchs aufspüren, ihn kennzeichnen und in Bezug zu anderem setzen, dieses Prinzip gilt auch für Notate der Nachkriegszeit. 30 hochgestellte Munitionskisten drängen mit ganzer Wucht keilförmig in den lang gezogenen Raum, bis sie vor einem Feld frisch geschorener Schafwolle zum Stehen kommen. Jetzt ist die Schere in Aktion. Ihren klirrenden Rhythmus im Ohr, bleiben die Augen am gegenüberliegenden "Rasterbild" hängen. "Haltung korrigieren!" schreit ein Melder. Und auf grau-rosa-gelbem Tableau demonstrieren einem Bilderlexikon der Nazizeit entsprungene Turnerinnen gymnastische Übungen. Wie Banalität und Monotonie sich steigern kann zu Hysterie, Gewalt, Brutalität und Zerstörung, führte Palucca-Schülerin Katharina Christl tanzend vor.

Im Kontrast zu derben Gesten und Zeichen, den urwüchsigen Symbolen und ihren Mutationen steht die lautlose imaginäre Begegnung mit Opfern entfesselten Herdentriebs: in der Installation "Reichsseifenkarte" und auf vier Monitoren, von denen bleiche Gesichter deportierter Wiener Juden aufschimmern. Petrovskys langjährige künstlerische Auseinandersetzung mit deutscher Geschichte ist im Video "Auf der Suche nach den verlorenen Bildern" abrufbar. Beuysscher Geist und die an Schwitters geschulte Methode führten ihn zu metaphorisch abstrakten Denklandschaften. Mit einer Ästhetik des Grotesken gelingt hier zu Dritt, was Event-Produzenten der Kunst doch so heftig auszureden versuchen: Unterhaltung mit sinnstiftender Botschaft.

Astrid Volpert, in: Berliner Zeitung v. 3.8.1999, S.20.

Haltung korrigieren!
Projekt de.formation von Wolfgang Petrovsky, Frank Voigt und Hartmut Dorschner

Die frisch geschärfte Schere liegt weich gebettet, geschützt unter Glas. Das Schaf in Rückenlage, mit Blättern aus einem Haushaltsbuch collagiert, nennt in Brust und Keule die alltäglichen Kosten der Nazizeit: Miete, Krankenkasse, Kino, Mitgliedsbeitrag NSDAP. "Vorwärts marsch!" quäkt ein quadratischer Lautsprecher. Erschrocken zieht der Mensch den Kopf ein und gesellt sich widerspruchslos zu einer Herde von dreißig hochkant gestellten Munitionskisten, die sich keilförmig in den nächsten Raum drängen. Das Beuys'sche Rudel ergießt sich über den grauen Fußboden. "Rechts um!", "Augen geradeaus", der unsichtbare Befehlshaber dirigiert seine Schäflein in dem spärlich erleuchteten Zimmer. Eine Frau vollführt exakte gymnastische Übungen, zack, zack, zack. "Halt, stehenbleiben!" Ein unerbittliches, unangenehm ratzendes Geräusch bohrt sich in das Gehirn - es ist die soeben noch sicher verwahrt geglaubte Schere, verborgen unter einem quadratischen Feld mit frisch geschorener Schafwolle. Das Ende? "Haltung korrigieren!" schnauzt es aus der Ecke. Der Mensch als willfähriges Objekt, als Teil einer Herde, bereit, Kriege zu führen oder Völker zu vertreiben. Das Ausstellungsprojekt de.formation in der Galerie Hintersdorf Berlin, die erste Gemeinschaftsarbeit von Wolfgang Petrovsky, Frank Voigt und Hartmut Dorschner, setzt sich mit dem Verlust der Subjektivität auseinander, geht der Frage nach, wie es möglich ist, daß sich das Individuum in der Masse zu willenlosen Rasterpunkten deformieren läßt. Die drei Künstler aus Dresden und Freital zeigen Installationen, Grafiken, Collagen und Objekte in allen nur erdenklichen Vernetzungen, die innerhalb von drei Tagen direkt in den großzügigen Räumen im Kunsthof an der Oranienburger Straße entstanden sind. Petrovskys Arbeiten zur deutschen Geschichte bilden die Grundlage für die inhaltliche Konzeption. Für den Freitaler ist es gewissermaßen ein Epilog seiner Austellungstour "Signalstation", zugleich aber ein Aufbruch in künstlerisches Neuland. Das Projekt de.formation ist in sofern bemerkenswert, als es beweist, daß Kunst noch eine Botschaft haben kann ohne auf Unterhaltungswerte zu verzichten, wie es Astrid Volpert in ihrer Laudatio feststellte. Es ist eine ernste Ausstellung, aber glücklicherweise keine Agitprop-Veranstaltung. Sie enthält auch ironisierende Elemente (allein die Konstruktion der Lautsprecher), ohne aber ins Lächerliche abzugleiten. Man darf sich also an den Einfällen der Künstler erfreuen und sich seine eigene Meinung bilden. Und auch dabei wird sich zeigen, ob man schon zur Herde gehört - oder noch ein Individium ist.

Thomas Morgenroth, in: Sächsische Zeitung, Ausgabe Freital/Dippoldiswalde vom 21.7.1999.

Kunst braucht den Vergleich.
Kunst braucht Auseinandersetzung und Öffentlichkeit. Um ein offenes Publikum nicht zu frustrieren, sondern in seiner Urteilsfähigkeit zu bestätigen, suchen engagierte Künstler immer neue Möglichkeiten, um mit ihren Ideen die zeitgenössische Kunstdiskussion vorranzutreiben.

Die Idee zum Kunstprojekt "Die Herde" ist aus langjähriger gemeinsamer Arbeit der beiden Künstler Wolfgang Petrovsky und Frank Voigt erwachsen. In intensiver Arbeit am Thema "Deutsche Geschichte und deutsche Gegenwart" sind sie ihren Weg zusammen oder auch einzeln gegangen ­ Petrovsky mit der übermalten Collage, Voigt mit den Mitteln der Computer- und Videotechnik. Aus diesen Erfahrungen heraus und diese mit den neuen gestalterischen Mitteln verbindend, gelangten sie gemeinsam zum "Herde"-Projekt.

Die Ausstrahlung von Signalen in einer Folge von Grafiken und Collagen als ein Teil der Arbeit führte mit Hilfe von Computer- und Filmbildern zu einem weiteren Schritt, mit dem Botschaften umfassender sinnlich vermittel- und reproduzierbar werden. Christoph Tannert spricht von einem "programmatischen Menetekel, in das Petrovsky und Voigt all ihren Lebenshunger und ihre Gesellschaftskritik, ihren sozialismuskompartiplen missionarischen Eifer und ihre Melancholie über deutsch-deutsche Vergangenheit und Gegenwart hineinlegen." Die Alltagsriten des NS-Staates zu den sozialistischen Weiheübungen der DDR in Bild-Beziehungen gesetzt zu haben, ist eines ihrer besonderen Verdienste. Die demagogischen Begriffe "Bewegung" und "Masse" (NS-Bewegung, revolutionäre Massen) täuschen Fortschritt vor und erstarren doch in Gleichschritt und Gleichförmigkeit.
Fortschritt ist nur scheinbar.

Um Kriege zu führen, bedarf es willfähriger Objekte, Menschenmassen, die ihre Subjektivität und Individualität verleugnen und dem Herdentrieb folgen müssen. In Friedenszeiten lebt der Einzelne nur scheinbar für sich, seine Bedürfnisse sowie sein Selbsterhaltungstrieb werden gelenkt und manipuliert zum Zwecke der Machtausübung und der Unendlichen Gewinnsucht. Ob Karnevalsumzüge, Oktoberfeste, vermasste Strände oder die Kaufparadiese im Disneyland der Märkte ­ als Teil einer Herde wird der Mensch in die Anonymität und damit in die Unmündigkeit gezwungen. In der Herde empfindet der Mensch seine Urtriebe, seine natürliche, kreatürliche Veranlagung.

Das eigentliche Thema der beiden Künstler ist, das Feld der deutschen Geschichte vom wilhelminischen Kaiserreich bis zur wütenden Herrschaft des Faschismus mit deutsch-deutscher Gegenwart in Beziehung zu setzen. Reale Erkenntnis ist immer zugleich Vision des Unvermeidlichen. Von Visionen lebt die Kunst, der Künstler setzt sie als Kassandrarufe ein, auch wenn sie meist ungehört verhallen, denken wir an Hans Grundigs Triptychon "Das Tausendjährige Reich" oder an Otto Dix "Der Krieg".

"Was ist Macht, und was ist Masse? Wie verhalten sich beide zueinander?" Elias Canetti, der in Bulgarien geborene Dichter, Naturwissenschaftler und Philosoph, der in Wien und Zürich gelebt hat, stellte sich zu Beginn des Jahrhunderts diese Frage. "Den Plan zu einem Buch über die Masse faßte ich schon 1928, als ich zwanzig war, also lange vor der Blendung. 1931 erkannte ich, daß ein solches Buch ohne eine ergänzende Studie der Macht wertlos bleiben müßte, und erweiterte den Plan." Und seit dieses für das Denken Canettis und die Entwicklung in Europa zentrale Buch "Masse und Macht" dann 1960 erschien, ist die Diskussion über seine unabhängigen und kühnen Thesen nicht zur Ruhe gekommen. Jene Eigenschaften Canettis und seine Kühnheit geben den Auftakt zu dem "Herde"-Projekt: Nichts voraussetzen. Auf alles selber stoßen wollen. Nichts zu fragwürdigen Einheiten zusammenfassen. Allem mißtrauen, das man nicht empfinden kann.

Dr. Gabriele Werner, Kustodin der Gemäldegalerie Neue Meister Dresden, zum Projekt "Die Herde", 1999