Texte zum Projekt X

Ein Haus steht Kopf

Vier x Ja. Da-Da lässt grüßen, Kurt Schwitters und Joseph Beuys sind allgegenwärtig. Auch sie hätten ihre helle Freude, könnten sie den Besucher durch die Räume des betagten Hauses begleiten. Es hat in den letzten Wochen eine Menge aushalten müssen. Ein Kreuz aus Leuchtstofflampen, zum 10jährigen Bestehen des k.u.n.s.t.-vereins Freital an die Fassade geschlagen - gleichzeitig symbolträchtiger Titel des aktuellen Ausstellungsprojekts. Läden geschlossen und Scheiben verdunkelt. über Plakat und Wände geistern Hasen - Sinnbild davoneilender Zeit und kurzen Menschenlebens - Vergänglichkeit also. Nichts Ungewöhnliches für ein altes Haus, für seine Besucher schon.

Seit zwei Wochen präsentiert sich das Haus nun schon von einer völlig anderen Seite, ja es scheint gar aus den Fugen geraten zu sein. Vier Künstler haben es ideenreich verwandelt. Beim Betreten taucht der Besucher ein in eine ihm zunächst fremde Welt, denn Verfremdung heißt der konzeptionelle Schlüssel für dieses Ausstellungsprojekt. Es müssen Magier am Werke gewesen sein. Und einem Zauber gleich lässt sich auch nicht alles erklären, schon gar nicht sofort. Erst beim zweiten Blick oder dem dritten Rundgang erschließen sich die im Haus verborgenen Botschaften. Getroffen vom Licht oder im Dunkel versenkt, laut oder leise kann man sie empfangen. Die Mittel sind nicht neu, ihre Verdichtung in solch einem Gehäuse schon. Es gibt vieles zu ergründen, doch mancher Zauber muss bleiben, was er ist, darf sein Geheimnis nicht preisgeben.

Die Suche nach dem "schwarzen Faden" kann beginnen, und sie führt den Betrachter und Hörer zielgerichtet durch alle Ausstellungsräume. Aus dem beziehungsreichen Geflecht formal-ideeller und akustischer Verknüpfungen erwächst schlüssig das Gesamtkonzept. Moderne Technik versetzt Gänge und Räume in eine phantastisch-surreale Welt, der man sich kaum entziehen kann. Einem Sog gleich wird der Besucher durch das Haus gezogen, von Raum zu Raum, von unten nach oben und zurück, emporgetragen auf dahinschwebenden Klangteppichen und Toncollagen. Ein solches, alle Sinne strapazierendes Raum-Haus-Erlebnis hinterlässt Spuren von nachhaltiger Tiefe.

Das Haus mag sich gesperrt haben. Ja oder Nein. Was bedeutet schon ein Nein gegen vier mal Ja? Dahinter verbergen sich Petra Lorenz, Wolfgang Petrovsky, Frank Voigt und Friedbert Wissmann - vier Künstler, die das Haus für wenige Wochen verzaubert haben - mit spielerischem Ernst. Und es war offenbar ein guter Partner. Vier gegen eins, es musste gelingen. Auch das Haus hat eine Lebensgeschichte. Spiel-Räume schaffen und Grenzen setzen will gelernt sein. Kunst-Räume sind Lebensräume, in denen sich die künstlerischen Fähigkeiten auf sehr vielfältige Weise entfalten können. Trotz aller Unterschiede in Auswahl und Beherrschung der Mittel ist ein sehens- und hörenswertes Produkt entstanden.

Das ganze Haus scheint vollgestopft mit Bildern, Installationen, Objekten, Collagen - Kabel durchziehen, elektrischen Adern gleich, fast alle Räume, Monitore verstellen den gewohnten Weg. Dem Besucher bleibt keine andere Wahl als die Richtung zu ändern. Seit fünf Jahren hat es brav den Vorstellungen unterschiedlicher Aussteller gedient, meist mit Rahmen an den Wänden ... Nur einmal wurde ein Nebenraum für eine Installation genutzt. Das Haus hat es verkraftet. Ein echtes Gehäuse verträgt eben auch Neues, Ungewohntes. Auf das Wie kommt es an. Seine Räume haben schon manchen "Sturm" überstanden. Viel hat es in seinem langen Leben aushalten müssen: Einnehmer-Haus, Wohn-Haus, Ausstellungs-Haus und schließlich Kunst-Objekt - eine bemerkenswerte Vita.

Im unteren Raum wird der Besucher gefangen genommen von Wolfgang Petrovskys "Gefrorenen Tränen" und den scheinbar endlos über Monitore laufenden Bild-Collagen, untermalt mit Friedbert Wissmanns Ton-Collagen. Im Zuge der überblendungen vollziehen sich Wandlungen und Verwandlungen - die "Suche nach den verlorenen Bildern" erweist sich letztlich als Suche nach verlorenen Menschen. Ein Motiv, auch im neuen Jahrtausend von beklemmender Aktualität. Während der Betrachter den Raum durchschreitet verändern sich die Bilder, und die Zeit läuft weiter und weiter. Die wohlig-weiche Wolle kontrastiert mit der natürlich-derben Strenge ihres Geruchs. Inseln gleich ragen die weißen Salzsteine aus dem Meer wogender Wollbüschel. Und im hinteren Teil des Raumes wächst zwischen einem in Erde gebetteten Kreuz munter das Gras. Obwohl nur von einer dürftigen Glühlampe beleuchtet, wächst es weiter, höher, dichter. Futter oder Versteck für den Hasen? Vier x Ja.

Die Verbindung von unten nach oben schafft ein Rudel Hasen. Oben angekommen, steht der Besucher vor Petrovskys "Schurzeit II", einer großformatigen Collage. Das Schaf in Rückenlage streckt seine Gliedmassen in einen mit collagierten Textblättern aus dem Haushaltsbuch eines Unbekannten versehenen imaginären Himmel und versetzt uns in den Alltag eines zwar untergegangenen, aber in manchen Köpfen noch immer spukenden Reiches. Auf der Wand gegenüber wieder Schafe, diesmal aus der Serie "Raster" von Frank Voigt. Mit dekorativer Wucht werden vier Schafe unverrückbar symmetrisch ins Blatt gestellt. Darunter drei Glasstelen, in denen sich wiederum wohlig-weiche Wolle räkelt, diesmal im Bewegungsraum deutlich beschnitten - plattgedrückt als farbgrafisch reizvolles Gespinst, Verletzlichkeit vermittelnd. Im hinteren Teil des Ganges schwimmt gar ein Schwarm Fische ziellos in den aus gestreckten Armen eines beleuchteten Aquariums, das nicht zufällig die Form eines Kreuzes besitzt. Ein aufs äußerste begrenzter Lebensraum - hin und her und her und hin.

Der "Bunker" im Oberstübchen des Hauses besitzt eine ungeheure formaler Sprengkraft, obwohl die Munitionskisten leer sind. Jeden Moment scheint die Decke abheben zu wollen. Doch sie hält. Der Spiegel, der das Kreuz als Lichtquelle reflektiert, lässt den Betrachter in das Innere der dunklen Burg aus schwarzen Kisten blicken. Geheimnisvoll leuchtet es aus den Ritzen hervor, doch man gelangt nicht hinein. über dem Ganzen liegt eine bedrohliche Geräuschkulisse, aus der sich ein Staccato heraushebt.

Im zweiten Oberstübchen empfängt Petra Lorenz den Besucher in ihrem künstlichen "Garten", einem Spiel aus Licht und Wasser, verdichtet durch vielfache Spiegelungen. Zwischen rostigen Ständern wachsen Pflanzen empor, strecken sich einer Lichtquelle entgegen. Von irgendwoher erhalten sie Wasser, denn Wasser ist Leben und Leben ist Wasser. Linkerseits ergänzt durch ihren "Traum", eine Computeranimation, bei der sich über dem Monitor barocke Arabesken zu figürlich-pflanzlichen Formgefügen zusammenschieben, einfühlsam unterstützt durch Wissmanns akustisch-musikalische Klanggebilde.

Im hinteren, ein wenig abgetrennten Bereich des Raumes schließlich schaukelt die "Rosafrau" in ruhigem Gleichmass hin und her. Doch es ist eine trügerische Ruhe. Aus dem Monitor schälen sich teils mit scharfen Schnitten versehene Körper und Köpfe von Kindern. überall lauern Gefahren, bedrohlich bricht sich das Licht in dem über den Boden ausgebreiteten Scherbenteppich. Ihn zu betreten könnte lebensgefährlich sein. Eine technisch zwar aufwendige, doch bemerkenswerte Installation von Frank Voigt.

"Jeder Mensch ist ein Künstler" oder "Alles ist Kunst"- Joseph Beuys lebt. Seine Positionen zum Verhältnis von Kunst und Gesellschaft sind aktueller denn je. Im freien, ungezwungenen Dialog mit ihm ist ein beeindruckendes Ergebnis entstanden. Alle Beteiligten sind um eine unwiederbringliche Erfahrung reicher geworden. Vier x Ja.

Dr. Klaus Seidel, Juni 2000